Hoch hinaus

1. November 2020 - Die zerklüftete, üppig bewachsene Bergwelt von Tahiti ist weniger bekannt und doch auch ein Markenzeichen der größten Insel Französisch Polynesiens.

Jenseits der quirligen Hauptstadt Papeete offenbart sich eine spektakuläre Landschaft. Steile, erodierte Vulkanschlote, magische Wasserfälle, tiefe Schluchten. Bereits um 04:30 Uhr sitzen wir im Taxi, das uns auf 600 Meter Höhe, zum beliebten Ausflugslokal Le Belvédère bringt. Hier beginnt der Trail auf den mächtigen Mont Aorai, 2066 Meter hoch und Tahitis dritthöchster Berg. Vor 25 Jahren, während unserer ersten Weltumsegelung mit der kleinen Susi Q, bestiegen wir den Berg in zwei Tagen. Damals übernachteten wir im Fare Mato, eine der beiden Hütten auf dieser Wanderung. Und damals begleitete uns Erich von der österreichischen Segelyacht Rubinsky. Erich, der mich immer ein bisschen an Bud Spencer erinnerte und der mit seiner Familie nach Neuseeland auswanderte. Heute denken wir besonders an ihn, denn er ist letztes Jahr verstorben.

Zum Auftakt zeigt sich der Weg von seiner besten Seite: breit und sanft bergauf. Wir marschieren in eine kühle Morgendämmerung, schweigen beide, ohne Schweigen kein Geh-Rhythmus. Über der Nachbarinsel Moorea hängt der volle Mond. Nach dem Col Hamuta (900 Meter) schlängelt sich der Pfad steil hinauf, starke Regenfälle in den letzten Tagen haben ihn rutschig gemacht. Knapp drei Stunden brauchen wir zum Fare Mato auf 1400 Meter, das wie ein Adlerhorst auf einer Bergkuppe thront. Erste Pause, ein Müsliriegel und trinken, trinken, trinken. Pro Person schleppen wir drei Liter Wasser. Schon bald liegt der Rocher du Diable, die gefürchtete Schlüsselstelle vor uns: ein Gratturm mit senkrechten Wänden, gesichert mit Fixseilen. Danach geht es mühsam durch Farnwälder und tief ausgewaschene Erdrinnen weiter, die die Bezeichnung Weg nicht mehr verdienen.

Bei der zweiten Unterstandshütte (Fare Ata) auf 1800 Meter Höhe beginnen Nieselregen und Nebelreißen. Immer noch kein Mensch zu sehen und kein Gipfel zu erkennen. Melde erste Bedenken, ob ich weitergehen soll, ob ich mir nicht zu viel vorgenommen habe, diese Gewalttour an einem Tag zu unternehmen. Ein paar Minuten diskutieren wir hin und her. Ja, nein, vielleicht, weiß nicht recht, … Weiter über einen endlosen, ausgesetzten Grat, wo jeder Schritt Präzision und Konzentration verlangt. Wo könnte man die Frage nach dem nächsten Schritt im Leben besser verhandeln als auf einem Grat. Demut ist hier oben ratsam. Seltsame Gedanken in meinem Kopf: Dass zum Beispiel alle Sicherheit Illusion ist, eine Bewegung, ein Schritt zu weit nach rechts oder nach links, alles wäre vorbei. Auf beiden Seiten geht es heftig hinab, imposante Tiefblicke zwischen Nebelfetzen in grüne, unzugängliche Täler. Und plötzlich geht es nicht mehr bergauf! Geschafft! Nach sieben Stunden stehen wir tatsächlich am Gipfel des Aorai - zum zweiten Mal in unserem Leben. Was für ein Geschenk!

Beim Abstieg heißt es: Volle Konzentration! Achtsam bleiben! Regenschauer machen den Steig noch glitschiger, doch peu à peu kämpfe ich mich abwärts. Immer wieder halte ich mich an Wurzeln fest, umarme Bäume, rutsche sogar am Hosenboden ein Stückchen hinunter. Es ist schwer zu beschreiben, was ich während der Tour auf den Aorai empfinde. Glück? Ja. Ehrfurcht? Ganz gewiss. Angst? Irgendwo tief in mir – wahrscheinlich ja. Aber noch viel mehr als das. Als wir nach zwölf Stunden Gesamtgehzeit wieder an unserem Ausgangspunkt ankommen, ist die Anstrengung vergessen. Wir haben unsere größenwahnsinnige Idee, den Aorai an nur einem Tag zu besteigen, durchgezogen. Die Freuden der Mühsal empfindet nur der, wer sich zuvor geschunden hat.