Alles was wir haben

17. September 2021 – „Storm-warning in effect“, krächzt die zerbröselte Computerstimme durch den Äther. Seit Tagen die gleiche hoffnungslose Vorhersage im UKW-Radio. Wir stecken fest.

Unseren Plan, die 500 Seemeilen von Südalaska nach Washington State offshore zu segeln, können wir vergessen. Von wegen Indian Summer. Uns bleibt nichts anderes übrig, als in Tagesetappen durch die Inside Passage nach Süden zu kommen. Dieses verwinkelte Labyrinth aus Fjorden, Meerengen, Inselchen und Buchten bietet einfach mehr Schutz vor den tobenden Elementen. Statt drei bis vier Tage werden wir nun drei bis vier Wochen unterwegs sein. Zu unserem Glück hat Kanada am 7. September 2021 seine Seegrenzen für ausländische Yachten geöffnet, denn Alaska ist von den übrigen Vereinigten Staaten durch British Columbia getrennt. Mit der „ArriveCAN“-App am Smartphone, einem PCR-Test (nicht älter als 72 Stunden) und der Covid-Impfbestätigung klarieren wir in Prince Rupert ein: Anruf bei CBSA (Canada Customs Services Agency) genügt, und wir sind offiziell in Kanada eingereist.

Obwohl die Gewässer der Inside Passage vom Ozeanschwell verschont bleiben (bis auf zwei Ausnahmen), erfordern sie viel Aufmerksamkeit, Planung und navigatorisches Fingerspitzengefühl. Alle sechs Stunden werden sie von durchschnittlich sechs Meter hohen Tiden geflutet und geleert. Wenn Wassermassen mit beträchtlicher Geschwindigkeit durch schmale Kanäle gedrückt werden, erzeugen sie bei gegenlaufenden Winden und (oder) Wellen ein Chaos an Turbulenzen. Ergo beherrschen hier die Gezeiten und die Wetterprognosen unser Denken, unser Vorwärtskommen und unser Leben.

Ein bleigrauer Himmel verschluckt alle Farben. Kalt kriecht der Herbst in unser Boot und unter die Haut. Wir verstecken uns im Lowe Inlet, ganz hinten im Nettle Basin, Ankertiefe 22 Meter. Draußen in der Hecate Strait, die die Ostküste von Haida Gwaii vom Festland trennt, tobt heute ein 40 bis 50 Knoten Sturm aus Südost. Seit Tagen Regen. Wasser überall. Es kommt von oben, von der Seite, es ist unter uns, es legt sich als Nebel über das Boot und über unsere Gesichter, wir atmen es, es hängt schwer in den tiefen Wolken und stürzt sich aus dem Verney Wasserfall schäumend in die dunkle Bucht. Auf einem Felsvorsprung neben dem Katerakt lauert ein Schwarzbär auf Beute. Er versucht mit seinen Pranken, die stromaufwärts springenden Lachse zu erwischen, bis ihm ein Fisch direkt ins Maul springt. Wenn es ein Schlaraffenland für Bären gibt, dann hier.

Den langen Weg, der noch vor uns liegt, teilen wir uns in kleine Etappen. Schritt für Schritt, Meile für Meile nach Süden. Dreizehn Meter lang ist unsere Welt. Manchmal kommt es mir eng an Bord vor. Gleichzeitig verhelfen die vollkommene Einsamkeit und Stille dazu, dass man als Mensch wieder auf seine angemessene Größe schrumpft. Unsere Begleiter sind die Wellen und der Regen, die Gezeiten und der Wind, der Schrei der Möwen und Adler, das Atmen der Seehunde und Wale. Starke Natur, eigenwillige Schönheit, überirdische Wildnis. Vielleicht schätzen wir manchmal den Augenblick nicht. Aber das Leben findet jetzt statt, in dieser Minute. Es ist alles, was wir haben. Es ist alles, was wir sind.

Ankerplatz Lowe Inlet, Nettle Basin:

60sm südsüdöstlich von Prince Rupert im Grenville Channel, unsere Ankerposition: 53° 33,40´Nord + 129° 34,15´West, Ankertiefe 22 Meter, fühlten uns hier gut geschützt, obwohl draußen der Wind heulte, fanden nur ein paar Böen ihren Weg in die Bucht.