Über Abschiede

12. Oktober 2021 - Eine Landschaft der Abwesenheit. Graues Meer. Leere Ankerbuchten. Verlassene Boote, auf Eis gelegte Träume. Verschlossene Fenster und Türen.

Schilder mit „Closed for the season, see you next year“ Die Tristesse der Nachsaison. Wir kennen es anders. Wärme, tiefblauer Himmel, volle Lokale, der üppige Rausch des Sommers. Die Broughtons, die Gulf Islands, die Strait of Georgia, die Ostküste von Vancouver Island – hier segelten wir bereits 2018/2019. Das Leben ist keine gerade Linie, sondern bewegt sich in Kreisen. Man kehrt immer wieder zurück. Manchmal, glaube ich, leben wir in zwei Welten gleichzeitig: in der Vergangenheit und in der Gegenwart.

Seit Wochen suchen wir einen Winterliegeplatz für unsere Nomad, in einer Werft, am Trockenen. Doch egal, wo wir anrufen oder persönlich vorbeischauen, überall heißt es: „Ihr seid spät dran, wir sind komplett voll!“ Zwei Werften würden unser Boot an Land stellen, aber nur für maximal vier Monate. Wir wollen aber sechs Monate in Österreich bleiben. Außerdem beschränkt sich unsere verzweifelte Suche auf British Columbia, Kanada. Rüber in die USA, in den Bundesstaat Washington dürfen wir nicht fahren, da die Seegrenzen nach Amerika immer noch geschlossen sind. Da hilft auch unser gültiges Cruising Permit, das wir in Hawaii erhalten haben, nicht weiter. Es bleibt dabei, von Kanada kommt man zurzeit mit dem Segelboot nicht in die USA. Angeblich soll sich die Situation Anfang November dieses Jahres ändern.

Galiano Island, Montague Harbour, wir ankern wegen Sturmwarnung in der inneren Bucht vor dem Public Wharf. Lisa und Nick von der Segelyacht Fairfax sind bei uns auf Kaffee und Kuchen. Mit den beiden sympathischen Amerikanern segelten wir die letzten Tage Boot an Boot, wanderten auf Piratenpfaden zu einsamen Buchten, bekochten uns gegenseitig, erlegten eine Maus, die sich zu uns an Bord verirrt hatte und redeten oft bis spät in die Nacht. So unterschiedlich unsere Wege an Land auch sind, hier im kalten Herbst Kanadas feiern wir das Leben gemeinsam. Best buddy boat ever! Plötzlich schrillt das Handy. „Ich habe einen Platz für Euch, wann könnt Ihr kommen?“ verkündet Alan vom Boatyard in Texada. Herzklopfen, Aufregung, Erleichterung. Die Ungewissheit, wohin es gehen wird, ob wir überhaupt einen Platz für unsere Nomad finden, hat endlich ein Ende. „Wir freuen uns mit Euch“, meint Lisa „aber wir hassen Abschiede“, sie hüllt sich in ihren dicken Pullover. „Dabei besteht das ganze Leben aus Abschieden. Ab einem gewissen Alter jedenfalls.“ Wie Recht sie hat. Großartige Begegnungen begreift man oft erst im Nachhinein als solche. Während sie geschehen, scheinen sie ganz selbstverständlich, als griffen die Räder des Schicksals geräuschlos ineinander. Wie oft haben wir uns auf dieser Reise von lieb gewonnen Menschen verabschiedet? Man lernt sich kennen, verbringt Zeit miteinander, feiert, tanzt, lacht, weint gemeinsam und dann von einem Tag auf den anderen ein Händedruck, eine Umarmung, ein Winken, ein Lebewohl auf Nimmerwiedersehen. Als hätte alles nur in einem Traum existiert. Wahrscheinlich ist die einzige Konstante im Leben, dass sich immer alles ändert. Die Kunst dabei: Die Veränderungen zulassen und annehmen. Denn ohne Veränderung, ohne Wechsel, ohne Abschied gibt es keine neuen Möglichkeiten, keine neuen Erfahrungen, keine neuen Begegnungen.