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Meeresgötter

veröffentlicht am: 05. Juli 2023 | Doris Renoldner

Wir wollten schon immer nach Haida Gwaii. Vor einigen Jahren sahen wir in einer Zeitschrift Fotos,

auf denen sich verwitterte Totempfähle vor der Kulisse eines undurchdringlichen Waldes Richtung Himmel recken. Die Bilder haben sich eingebrannt. Und dann allein schon der Name: Haida Gwaii, das klingt wie aus einem Fantasyroman. Oder wie ein Versprechen. Die Inselgruppe, die gut 80 Kilometer vor der Küste British Columbias liegt, hat Festungscharakter. Als Burggraben fungiert die extrem flache und gefürchtete Hecate Strait. In der griechischen Mythologie ist Hecate (auch Hekate) die Göttin der Magie, aber auch die Göttin der Wegkreuzungen und die Wächterin der Tore zwischen den Welten. Welch passender Name für dieses wilde Seegebiet.

Knapp 100 Seemeilen sind es von Gillen Harbour auf Dewdney Island zu unserem Sommerziel Haida Gwaii. Wir verlassen abends das geschützte Labyrinth der Inside Passage und steuern hinaus in die schwabbelige See. Unberechenbare Gezeitenströme, mächtige Strudel, holpriger Seegang. In der Hecate Strait können schon bei mäßiger Brise infernalische Zustände herrschen. Die UKW-Wettervorhersage spricht von süd-südöstlichen Winden mit 20 bis 30 Knoten. Ein Trog sitzt uns auf den Fersen. Zeitig Früh rauscht der angekündigte Wind tatsächlich heran. Die runzelige Haut des Wassers überzieht sich mit brechenden Wellen. Innerhalb einer knappen halben Stunde sind die Wogen steil, wuchtig, getrieben vom aufbrisenden Wind. Mit zwei Reffs im Groß und dem Kutter an Steuerbord schlittert Nomad voran.

Flache Sandbänke liegen östlich des Skidegate Inlets, unserem Ansteuerungs-Wegpunkt. Von „kochendem“ Wasser lese ich im Revierführer und dass man am besten die tiefe, betonnte Fahrrinne nehmen soll. Das würde einen Umweg von gut zehn Seemeilen bedeuten, die Hälfte davon gegen den Starkwind. So treffen wir die waghalsige Entscheidung, den Abschneider über die Flachs zu nehmen. Laut Seekarte sollte die Wassertiefe nie unter drei Meter gehen plus drei Meter Tidenstand, müsste sich also ausgehen. Eh klar, dass der Wind jetzt zulegt, es orgelt bereits mit 30 Knoten. Wir bergen die Fock und binden ein drittes Reff ins Groß. Ich fixiere das Echolot und die weiße Gischt am Horizont und frage mich, was zum Teufel wir hier eigentlich tun? Wahrscheinlich habe ich vergessen, woher die Falten in meinem Gesicht kommen. Falten, die entstehen, wenn man besorgt ist. Und ich bin hochtalentiert, mir Sorgen zu machen. Mir fallen auf Anhieb mehrere Gründe ein, was bei der Ansteuerung alles schief gehen könnte. Müssen wir vielleicht wegen auslaufendem Tidenstrom durch schäumende Brecher steuern? Können wir gar quer schlagen? Oder auf Grund laufen? Das Wittern von Gefahr. Mein Herz pocht. Doch die Meersgötter sind auf unserer Seite. Der Seegang beruhigt sich, und Nomad landet ungeschoren in der tiefen Fahrrinne. Wir atmen im selben Moment auf, ein leises, vereintes Seufzen an Bord. Da ist es wieder dieses Gefühl im Magen, dass das Meer keinen Fehler verzeiht. Und dass einem nichts geschenkt wird. Situationen wie diese sind ein Mysterium. Sie machen dich klein. Sie machen dich groß. Sie zerren dich auseinander und sie setzen dich wieder neu zusammen.

Bild links oben: Wolfi beim Reffen, Bild oben: Ansteuerung von Haida Gwaii