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Über Erwartungen

veröffentlicht am: 16. August 2019 | Doris Renoldner

5. August 2019 - „Chatterbox Falls!“, meint der junge Skipper, der beim Anlegen in Pender Harbour unser Heck rammt.

Offensichtlich hat er den Vorwärts- mit dem Rückwärtsgang verwechselt. "Ihr müsst unbedingt zu den Chatterbox Falls!" Der „Heilige Gral“ der Sunshine Coast. Das Highlight der kanadischen Inside Passage und angeblich das meist fotografierteste Motiv weit und breit. Ein kurzer Blick auf die Karte genügt, und wir erkennen einen Meeresarm, der 45 Seemeilen in das Küstengebirge einschneidet. Eine Welt ohne Straßen, die man nur vom Boot aus erleben kann. Wir zögern. „Geh bitte, wieder 100 Meilen motoren!“ stöhnt Wolf. Wind ist um diese Jahreszeit hier Mangelware. Dann jedoch stolpern wir im Internet über eine Wanderung zu einem alpinen Gletschersee gleich beim Wasserfall und sofort ist unsere Neugier befeuert. Also nichts wie hin!

Am nächsten Morgen starten wir den Diesel, lösen die Leinen und fahren los. Der Flutstrom setzt langsam ein, gewinnt an Kraft und schenkt uns Geschwindigkeit und Meilen. Um uns herum nur Wasser, Berge und Wald. Wunderschön. Motoryachten flitzen vorbei, Nomad schaukelt im Schwell. Knapp acht Stunden später der Aufreger des Tages: die Malibu Rapids, das Tor zum Princess Louisa Inlet, an dessen Ende sich der viel gelobte Wasserfall in den Fjord stürzt. Bis zu neun Knoten Tidenstrom schwappen durch diesen engen Flaschenhals, den man nur bei Stillwasser wagen soll. Auf UKW Kanal 16 hören wir aufgeregte „Securité-Warnungen“ von denen, die durchfahren. "Ob es wirklich so wild wird?", entfährt es mir. Wie auf Eiern navigieren wir durch die Rapids, das Echolot zeigt ausreichend Tiefe, Nomad rutscht geschmeidig hindurch. Anscheinend sind die Malibu Rapids ein zutiefst subjektives Erlebnis.

Gut 2000 Meter hohe Berge flankieren den Princess Louisa Inlet, die Ufer rücken näher. Gemächlich tuckern wir zum vollen Anleger, gehen längsseits an die Segelyacht „Joey“, machen direkt vorm Wasserfall in erster Reihe fest. Einsamkeit sucht man hier vergebens. Zig Boote sind - wie wir - dem Lockruf des „Must Visits“ gefolgt. Und wie so oft bei hohen Erwartungen, entspricht die Realität nicht ganz der Vorstellung. Ich weiß zwar nicht genau, was ich mir vorgestellt habe, aber irgendetwas fehlt. Vielleicht ist es der zu „klein geratene“ Wasserfall? Oder die vielen Besucher, die den Zauber der Abgeschiedenheit stören?

Abgeschiedenheit finden wir anderntags nur wenige Meter hinter dem Anlegesteg. Steil und rutschig schlängelt sich ein Pfad durch einen Märchenwald. Manchmal hangeln wir uns von Wurzel zu Wurzel. Unwirklich sieht es hier aus. Als hätte jemand Tonnen grün eingefärbter Zuckerwatte über den Ästen der Bäume verteilt. Feuchtigkeit hängt im Gebirge. Unsere T-Shirts sind sofort durchgeschwitzt. Nach gut zwei Stunden erreichen wir die verfallene Trapper´s Cabin. Bis hierher markieren bunte Plastikschleifen den Weg. Danach gibt es keinerlei Anhaltspunkte mehr. Wolf kann Landschaft lesen, er erkennt Spuren und weiß, wo und wie wir den rauschenden Bach am Leichtesten überqueren. Stetig gewinnen wir an Höhe, erreichen unter steilen Felswänden einen Bergrücken, umtänzeln Schlammpfützen, kämpfen uns durchs Gestrüpp. Mühsam, fordernd, anstrengend. Nach gut fünf Stunden Aufstieg melden sich meine Bedenken: „Wir müssen das alles auch wieder retour.“ Wolf blickt auf die ungenaue Wanderkarte und murmelt kopfschüttelnd: „Der Gletschersee liegt wahrscheinlich erst hinter dem nächsten Berg.“ Somit drehen wir nach 1400 Höhenmeter um, ohne unser Wunschziel erreicht zu haben. Wollen in dieser Wildnis nichts riskieren.

Warum sind wir eigentlich hier? Was hat das mit dem Wandern auf sich? Was hat man davon, abgesehen von den unsäglichen Knieschmerzen beim Abstieg? Nun, die Aussicht ist beeindruckend, aber es ist auch klar, dass es uns eher um andere Dinge geht: Herausforderung, Verlockung und für uns ganz wichtig: Ausgleich zum nicht unbedingt konditionsförderlichen Seglerleben. Sicherlich ist da auch die Überzeugung, dass am Ende eines Wandertages mehr zurückbliebt als nur Schlamm in den Rillen der Schuhsohlen. Im besten Fall eine positive Wirkung auf Körper, Geist und Seele.

Beim Abstieg lassen wir uns Zeit. Pflücken Heidelbeeren, aus denen wir eine köstliche Marmelade machen werden und genießen den Wasserfall bei der Trapper´s Cabin, der in keinem Reiseführer erwähnt wird, ganz für uns alleine. Rauschend ergießt er sich über steile Granitplatten. Es sind Erlebnisse dieser Art, die alles umdrehen. Wäre der Spruch "Der Weg ist das Ziel" nicht schon so ausgelutscht, dann würde ich ihn jetzt verwenden.

Malibu Rapids beim Rausfahren

Trailer


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