2. Mai 2020 - Wir sind nicht abgefahren, wir sind geblieben. Im Hafen von Atuona, in der Bucht von Tahauku.
Die Hoffnung auf Aufhebung des Segelverbots ab 29. April zerplatzte zwar wie eine Seifenblase, aber seit heute dürfen wir immerhin um die Insel Hiva Oa schippern. Das fühlt sich schon viel besser an und schmeckt ein bisschen nach Freiheit. Um die Bewohner in den kleinen Dörfern mit unserer Anwesenheit nicht zu verängstigen, müssen wir eine extra angefertigte orange-blaue Flagge führen. Sozusagen als Zeichen, dass wir in Quarantäne waren und bei den Behörden registriert sind. Zur Erinnerung: Auf den Marquesas Inseln lebten bis Mitte des 19. Jahrhunderts ca. 20.000 Menschen, die innerhalb von knapp 100 Jahren durch Krankheiten, die die Europäer brachten, auf 2.000 dezimiert wurden.
Auch wenn wir uns mit dem 4.500 Seemeilen langen Trip über Hawaii nach Kanada lange auseinander gesetzt haben, fehlt uns die Motivation für diese schwierige Strecke. Vielleicht liegt es daran, zum selben Ort zurückzukehren, wo wir vor knapp einem Jahr ohnehin waren. Oder daran, dass sich bereits die ersten tropischen Depressionen in der Konvergenzzone bilden. Oder daran, dass die Einreise von der USA, also von Hawaii nach Kanada plötzlich nicht mehr möglich ist. Somit bliebe uns nur eine Nonstop Fahrt. Also haben wir die „retour-nach-Vancouver-Island“-Idee zumindest vorläufig über den Haufen geworfen.
Stattdessen trainieren wir nun unsere Beinmuskulatur, spazieren und wandern durch tropische Wälder und auf matschigen, steilen Pfaden. Besuchen mit Moos überwachsene Petroglyphen und eine versteckte Tohua, eine steinerne Kultstätte, im Tahauku Tal. Gestern marschierten wir beim ersten Büchsenlicht mit Stirnlampen los. In Serpentinen schlängelte sich der Weg eine steile Kraterwand empor. Schon bald funkelte tief unter uns das kleine Städtchen Atuona. Nach drei Stunden Aufstieg erreichten wir einen in Wolken gehüllten Grat auf ca. 1000 Meter Höhe. Der Weiterweg verlor sich im dichten Nebel und führt in die Hanamenu Bucht, zur Nordwestküste der Insel. Wir aber drehten um und traten den rutschigen Abstieg an. Farne, Gräser und wilde Orchideen dampften in der Feuchtigkeit, ein erdiger Geruch hing schwer in der Luft.
Ab 13. Mai hoffen wir auf weitere Lockerungen, träumen davon, zumindest in Französisch Polynesien wieder segeln zu dürfen. Leider gibt es keine Abkürzung in die Zukunft und wahrscheinlich wird nichts mehr so, wie es einmal war. Die Coronavirus-Pandemie, das ganze Geschehen ist viel zu komplex, als dass ich es überschauen oder gar verstehen könnte. Wird diese Geschichte, das Eingesperrt-Sein, das Bangen je ein Ende finden? Bekanntlich ist das Ende stets der Anfang von etwas Neuem. Wie wird sich das Neue anfühlen? Gedanken, auf die ich keine Antworten habe. Nur eins habe ich in den letzten Wochen gelernt: Punkte, die wir im Leben setzen, sind immer nur vorläufig. Ich muss aufhören, zu kämpfen. Muss die Dinge einfach geschehen lassen. Morgen, nach 48 Tagen im Hafen von Atuona, wollen wir Anker auf gehen und zur Nordküste von Hiva Oa segeln. Mein Herz pocht heute bereits vor Aufregung, Nervosität und Freude. Die magische Kontur eines neuen Anfangs zeichnet sich vage am Horizont ab.